In der Diskussion um ein starkes Immunsystem dominieren meist Mikronährstoffe wie Vitamin C, Zink oder Vitamin D die Schlagzeilen. Wenn die Erkältungswelle anrollt, greifen viele Menschen zu Obst und Tabletten. Dabei wird der wichtigste strukturelle Baustein der körperlichen Abwehr oft übersehen: das Nahrungsprotein (Eiweiß).
Das Immunsystem ist eines der stoffwechselaktivsten Organe des menschlichen Körpers. Es befindet sich in einem permanenten Zustand des Auf- und Umbaus. Ohne eine ausreichende Zufuhr von Aminosäuren – den kleinsten Bausteinen der Proteine – fehlt der Abwehr schlichtweg das Baumaterial, um Viren, Bakterien und andere Pathogene effektiv zu bekämpfen. Eine Unterversorgung mit Eiweiß ist einer der häufigsten, aber am wenigsten beachteten Gründe für eine erhöhte Infektanfälligkeit.
Das Wichtigste in Kürze
- Antikörper sind Proteine: Die spezifische Abwehr des Körpers (Immunglobuline) besteht biochemisch fast vollständig aus Proteinen; ohne ausreichende Zufuhr kann der Körper diese Abwehrstoffe nicht in notwendiger Menge produzieren.
- Erhöhter Bedarf bei Infekten: Während einer akuten Infektion oder Entzündung steigt der Proteinumsatz drastisch an, da der Körper Millionen neuer Immunzellen bilden und Gewebe reparieren muss.
- Aminosäuren als Signalgeber: Bestimmte Aminosäuren (wie Glutamin und Arginin) dienen nicht nur als Baustoff, sondern als essenzielle Energiequelle und Regulatoren für Immunzellen.
Die biologische Basis: Warum die Abwehr Eiweiß benötigt
Um zu verstehen, warum Protein für die Immunität unverzichtbar ist, muss man die Funktionsweise der Immunantwort betrachten. Das Immunsystem besteht aus einem komplexen Netzwerk von Zellen und Proteinen.
- Antikörper (Immunglobuline): Wenn ein Erreger eindringt, produzieren B-Lymphozyten spezifische Antikörper (IgG, IgA, IgM), um den Eindringling zu markieren und zu neutralisieren. Diese Antikörper sind Glykoproteine. Fehlt das Protein in der Ernährung, ist die Produktion dieser „Waffen“ limitiert.
- Zytokine und Botenstoffe: Damit Immunzellen miteinander kommunizieren können („Hier ist eine Entzündung, wir brauchen Verstärkung“), nutzen sie Botenstoffe wie Zytokine. Auch diese basieren auf Aminosäuren.
- Zellproliferation: Im Falle eines Infekts müssen sich Leukozyten (weiße Blutkörperchen) explosionsartig vermehren (klonale Expansion). Für diesen massiven Zellaufbau werden Proteine als strukturelle Basis benötigt.
Ein Proteinmangel führt nachweislich zu einer Atrophie (Schrumpfung) der lymphatischen Organe (wie Thymus und Lymphknoten) und einer reduzierten Anzahl zirkulierender T-Zellen. Das Ergebnis ist eine geschwächte Barrierefunktion und eine verzögerte Reaktion auf Krankheitserreger.
Wie viel Protein ist für das Immunsystem notwendig?
Die offizielle Empfehlung der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) für gesunde Erwachsene liegt bei 0,8 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht. Viele Ernährungsmediziner und Immunologen halten diesen Wert jedoch für das absolute Minimum, um Mangelerscheinungen zu vermeiden, nicht jedoch für das Optimum zur Stärkung der Abwehrkraft.
Der Erhaltungsbedarf vs. der Stressbedarf
In Ruhephasen mag 0,8 g/kg ausreichen. Doch sobald der Körper Stress ausgesetzt ist – sei es durch physisches Training, psychischen Stress oder eine beginnende Infektion –, steigt der Bedarf.
- Präventiv: Für ein optimal funktionierendes Immunsystem wird oft eine Zufuhr von 1,0 bis 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht empfohlen.
- Akute Infektion: Während einer fieberhaften Erkrankung läuft der Stoffwechsel auf Hochtouren (Katabolismus). Der Körper baut körpereigenes Muskeleiweiß ab, um Aminosäuren für das Immunsystem zu gewinnen. Um diesen Muskelabbau zu verhindern und die Immunfunktion zu stützen, kann der Bedarf auf 1,2 bis 1,5 Gramm steigen.
Ein 75 kg schwerer Mensch sollte also präventiv etwa 75 bis 90 Gramm Eiweiß täglich zu sich nehmen.
Die Rolle spezifischer Aminosäuren
Nicht nur die Gesamtmenge, sondern das Aminosäureprofil ist entscheidend. Zwei Aminosäuren spielen für das Immunsystem eine Schlüsselrolle:
- Glutamin: Es ist die wichtigste Energiequelle für sich schnell teilende Zellen, insbesondere für die Zellen der Darmschleimhaut und die Leukozyten. Bei Stress oder Infektionen sinkt der Glutaminspiegel im Blut drastisch. Ein Mangel beeinträchtigt die Funktion der Killerzellen.
- Arginin: Diese Aminosäure ist essenziell für die Aktivierung von T-Zellen. Zudem fördert sie die Wundheilung und die Durchblutung.
Bioverfügbarkeit und Proteinquellen
Damit das Immunsystem profitieren kann, muss das Nahrungsprotein effizient in körpereigenes Protein umgewandelt werden (Biologische Wertigkeit).
Tierische Proteine (Eier, Fisch, Fleisch, Milchprodukte) haben oft eine höhere Bioverfügbarkeit und liefern das volle Spektrum an essenziellen Aminosäuren. Pflanzliche Quellen (Hülsenfrüchte, Nüsse, Getreide) sind ebenfalls wertvoll, müssen jedoch oft geschickt kombiniert werden, um ein vollständiges Profil zu erreichen.
In Phasen, in denen der Bedarf erhöht ist oder der Appetit krankheitsbedingt fehlt, kann es schwierig sein, die notwendigen Mengen allein über feste Nahrung aufzunehmen. Hier liegt der Vorteil von hochwertigen, leicht verdaulichen Proteinquellen. Molkenprotein (Whey) zeichnet sich beispielsweise durch einen sehr hohen Gehalt an Cystein aus – einem Vorläufer von Glutathion, dem stärksten körpereigenen Antioxidans. Ein reines Grass-Fed Whey Protein ohne künstliche Zusätze kann hier helfen, den Körper schnell mit essenziellen Aminosäuren und Immunglobulinen zu versorgen, ohne den Verdauungstrakt zu belasten.
Der „Open Window“-Effekt: Sport und Protein
Besondere Aufmerksamkeit gilt sportlich aktiven Menschen. Nach intensivem Training ist das Immunsystem kurzzeitig geschwächt („Open Window“). Der Körper ist mit der Reparatur der Muskulatur beschäftigt.
Wird in dieser Phase kein Protein zugeführt, konkurrieren Muskelregeneration und Immunsystem um die knappen Ressourcen. Eine adäquate Proteinzufuhr direkt nach der Belastung schließt dieses Fenster schneller und reduziert das Risiko, sich nach dem Sport zu erkälten.
Fazit: Protein als immunologisches Fundament
Ein starkes Immunsystem basiert auf einer komplexen Nährstoffversorgung. Während Vitamine die „Zündkerzen“ sind, ist Protein der „Motorblock“. Ohne eine ausreichende Zufuhr von qualitativ hochwertigem Eiweiß fehlt dem Körper die Substanz, um seine Verteidigungslinien aufrechtzuerhalten.
Wer seine Abwehrkräfte stärken will, sollte daher nicht nur zur Zitrone greifen, sondern bei jeder Mahlzeit auf eine Proteinkomponente achten. Besonders im Alter, bei Stress und in der Erkältungssaison ist eine Erhöhung der Zufuhr auf über 1,0 g/kg Körpergewicht eine wissenschaftlich fundierte Strategie zur Gesundheitsvorsorge.
